Auch wenn die Volksabstimmung der Briten am 23. Juni 2016 mit knapper Mehrheit zu einem Austritt aus der EU geführt hat, so wird dieser nicht unmittelbar geschehen; Artikel 50 der Europäischen Verfassung sieht einen klaren Verfassungsweg vor. Dieser wird innerhalb von zwei Jahren die Einzelheiten des EU-Austritts regeln und beinhaltet Themen, wie Reisefreiheit, Kontrollfunktionen, Verkehrs- und Handelsabkommen und einiges mehr. Bis es so weit ist, herrscht allerdings Rechtssicherheit. Obwohl dies einige Kritiker wieder beschwichtigt zu haben scheint, so sind die wirtschaftlichen Folgen doch weitestgehend unabsehbar. Anleger werden sich anhand der unsicheren Lage verständlicherweise zurückhalten.
Der Zwiespalt Großbritanniens spiegelt sich in der Verteilung der Wahlergebnisse wider, bei dem besonders die Bürger von Nordirland und Schottland gegen den Austritt stimmten. Doch neben diesen historischen Ressentiments ist eines der bemerkenswerten Resultate dieser Abstimmung das Gefälle zwischen Jung und Alt. Besonders die ab 60-Jährigen waren für einen Brexit, dahingegen sprachen sich 18- bis 29-Jährige eindeutig dagegen aus. Auffallend bei den jüngeren Bürgern ist der hohe Bildungsstand, da 68 Prozent einen Universitätsabschluss aufweisen. Trotz allem haben die Wahlergebnisse von allen 382 Wahlkreisen ein nur knappes Ergebnis hervorgebracht: 48,1 Prozent stimmten für den Verbleib in der EU, dahingegen 51,9 Prozent für einen Austritt.
Die Börse ist ein sensibles Wesen – dramatischer Kurseinbruch des britischen Pfunds
Schon während der heißen Phase vor der Volksabstimmung reagierte die Börse und als Folge landete das britische Pfund seit mehr als 31 Jahren auf einem Rekordtief. Die Sorge vieler Händler, dass der spektakuläre EU-Austritt die Währungsunion gehörig ins Wanken bringen würde, ist nicht unbegründet. Wenn Anleger noch vor dem Brexit auf einen Verbleib der Briten in der EU gesetzt haben, so flüchten sie jetzt in stabile Währungen, wie den Schweizer Franken. Und prompt erklomm dieser den höchsten Stand seit August 2015. Das angestrebte Ziel der Anleger ist der Absicherungsbedarf. Eine Neuorientierung des Immobilienerwerbs – ausgerichtet auf den Kontinent – dürfte die Folge sein.
Doch die zurzeit meist gestellte Frage ist, wie sich andere europäische Länder in Zukunft verhalten werden. Schon jetzt gibt es Stimmen der rechtsorientierten Fraktionen, wie die der niederländischen Partei der Freiheit wie auch der Front National in Frankreich, die sich gegen die EU aussprechen. Ob dies je durchsetzbar sein wird, könnte man eher als philosophische Frage des politischen Zirkus ansehen. Doch hat allein schon diese politische Diskussion dafür gesorgt, dass die Anleger mehr als verschreckt wurden. Nichtsdestotrotz besteht die Befürchtung, dass es Nachahmer unter den EU-Staaten geben könnte.
Nach dem Brexit gelten das Finanzzentrum in London und nahezu die gesamte Finanzindustrie als die größten Verlierer. Fast alle Bankenwerte gerieten unter Druck, allen voran die Aktien der Commerzbank sowie der Deutschen Bank, die um jeweils 17 Prozent einbrachen. Das lässt keinen Investor mehr kalt und eine Abwanderung sowie Neuorientierung wird unausweichlich bleiben.
London ging es zu gut – selbst leerstehende Luxusimmobilien waren möglich
Speziell der Londoner Immobilienmarkt galt schon seit Jahren als überbewertet. Dank der einströmenden ausländischen Investoren wurden exorbitante Preise für Luxusimmobilien erzielt. Bevorzugte Stadtteile waren Knightsbridge, Mayfair und Chelsea – und auch die Docklands bekamen immer mehr Interesse, die heute mit ihren exklusiven Wohnanlagen glänzen. In den vergangenen Jahren stieg der Wertezuwachs von Häusern und Exklusivapartments in London allein im Schnitt um die Hälfte. Anleger aus aller Welt haben nach der Weltfinanzkriese einen sicheren Hafen gesucht und fanden in London genau die Objekte, die ihnen in unsicheren Zeiten einen Gewinnzuwachs garantierten.
Bei der Art dieses Erwerbs ging es in den meisten Fällen nicht um die Verlegung oder Neugründung einer Firma oder Schaffung von Arbeitsplätzen, sondern alleinig um die Kapitalmaximierung. Als Resultat sind die sogenannten Geisterstraßen entstanden, gesäumt mit leerstehenden Luxushäusern. Doch störte dies die Eigentümer wenig, denn das Abwarten war profitabler als das Vermieten. In der Vergangenheit konnten auf diese Weise Preissteigerungen von bis zu zehn Prozent pro Jahr erzielt werden.
Nach dem Brexit – welche Rechte werden Ausländer noch haben?
Zurzeit herrscht völlige Unklarheit, was die zukünftigen Rechte von EU-Bürgern in Großbritannien betrifft. Im britischen Parlament wird zurzeit über eine „Bleibegarantie“ diskutiert, gegen die sich allerdings der Minister für Einwanderung, James Brokenshire, ausgesprochen hat. In Großbritannien leben circa drei Millionen EU-Bürger, deren zukünftige rechtliche Situation im Unterhaus momentan Gesprächsthema Nummer Eins ist. Wenn auch vorläufig der Status quo aufrechterhalten bleiben soll, so werden schon Limitierungen der Sozialleistungen in Erwägung gezogen. Unweigerlich wird dies nicht nur den Normal-EU-Bürger betreffen, sondern alle Firmen und Finanzinstitute, die ihre Arbeitskräfte nach London versetzt haben oder es noch vorhaben sollten.
Verschärft wird die Situation durch eine angedachte Reglementierung, wenn es um das Niederlassen und das Arbeiten eines EU-Bürgers geht. Eine strikte Forderung einer Arbeitsgenehmigung steht dabei im Raum. Ebenso werden zukünftige Reisefreiheiten überdacht und vermutlich nicht den Standards einer Europäischen Union entsprechen, wenn man den Ankündigungen der Innenministerin Theresa May glauben darf. Nach der Neubesetzung der Downing Street No. 10 wird sich zeigen, ob May zu ihrem Wort steht.
Zugang zum europäischen Binnenmarkt blockiert
Doch wie sieht es für ausländische Investoren aus, die London bisher als Standort genutzt haben, um den europäischen Binnenmarkt zu erobern? Hauptsächlich Chinesen wurden von einem liberalen London angezogen und haben taktisch gesehen ihre Unternehmens-Hauptsitze nach London verlegt. Es hängt jetzt alles davon ab, wie schnell die Briten mit den EU-Mitgliedsstaaten verhandeln können, um den Zugang zum Binnenmarkt nicht zu blockieren. Doch der vormals unbegrenzte Zugang zum EU-Binnenmarkt war einer der wichtigsten Gründe für chinesische Investoren, bevorzugt in Großbritannien investierten und sich etablierten – mehr als in keinen anderen europäischen Land.
Berlin hat mehr zu bieten – die Stabilität der Fundamentaldaten
Mit dem Austritt der Briten aus der EU wird sich einiges schlagartig ändern. Immobilien in London werden an Wert verlieren und zukünftige Anleger stehen vor der Entscheidung, ob sie noch in Londons City investieren wollen. Denn die Alternativen stehen ihnen zahlreich zu besseren Konditionen zur Verfügung. Die sehr stabile wirtschaftliche, politische wie soziale Situation, der starke Wachstum von Start-Ups in den vergangenen Jahren sowie das wissenschaftliche Umfeld in Berlin haben immer mehr Investoren angezogen. Der Brexit entwickelt sich daher eher als ein zweitrangiger Katalysator – wenn auch als ein sehr wichtiger!
Anderen Vorteile bietet Berlin durch bezahlbare Mieten, niedrige Lebenshaltungskosten und die hohe Lebensqualität. Dies zieht viele Talente aus aller Welt an, nicht nur Start-Ups, sondern auch die sogenannten Fintechs, die Dienstleistungen aus dem Finanzbereich anbieten und in Zukunft die Bankenindustrie maßgeblich prägen werden. Wenn London auch bis dato als bevorzugter Fintech-Standort galt, könnte Berlin der neue Favorit werden. Schon im Jahre 2015 hat Berlin London als Start-Up-Standort abgehängt.
Quellen
- Nach langer Debatte bei Volksabstimmungen gescheitert: http://www.eu-info.de/europa/eu-vertraege/EU-Verfassung
- Over-65s were more than twice as likely as under-25s to have voted to Leave the European Union: https://yougov.co.uk/news/2016/06/27/how-britain-voted
- The UK’s EU referendum: All you need to know: http://www.bbc.co.uk/news/uk-politics-32810887
- http://de.reuters.com/finance/markets
- Britisches Pfund fällt dramatisch: http://www.fr-online.de/brexit/brexit-britisches-pfund-faellt-dramatisch-,34340058,34413106.html
- Welche Folgen hat der Brexit für Berlin: http://www.bz-berlin.de/berlin/welche-folgen-hat-der-brexit-fuer-berlin
- https://de.wikipedia.org/wiki/Finanzkrise_ab_2007
- Warum Berlin Gewinner des Brexit sein könnte: http://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/konkurrenz-fuer-london-warum-berlin-gewinner-des-brexit-sein-koennte/13821394.html
- Uneinigkeit über zukünftige Rechte für EU-Ausländer: http://www.zeit.de/politik/ausland/2016-07/brexit-grossbritannien-eu-buerger-migration-james-brokenshire
- Mögliche Cameron-Nachfolgerinnen wollen Freizügigkeit beschränken: http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/brexit-moegliche-cameron-nachfolgerinnen-wollen-freizuegigkeit-beschraenken-14332154.html
- Brexit bremst Investoren aus: http://www.n-tv.de/wirtschaft/Brexit-bremst-Investoren-aus-article18042186.html